Kirill Cherbitski.

Gerade indem er verrückt wird, integriert sich ein Ausländer in die europäische Kultur.

Ob dieser unkomplizierte, durch Beispiele bestätigte Gedanke einer Erklärung bedarf?

Der Ausländer beginnt mit einem Versprecher, und in seinem "ein Kaffee und eine Brötchen" eröffnen sich Abgründe. Der Ausländer ist ein unwillkürlicher Modernist, ein Irrtum und Fehltritt in der Kette des Vernünftigen. Deshalb sind gerade die so komisch, die sich aber in der Emigration bemühen, ein normales bürgerliches Leben zu führen, sich an das Bürgertum anzupassen, für das sie nichtsdestoweniger ein unvermeidliches Übel bleiben, Schwarzarbeiter, wenn nicht potentielle Gauner.

Aufdringlicher Bettler oder Objekt passiven Mitleids, der Ausländer kann dennoch versuchen, sich in dem Ghetto zu realisieren, in der "kleinen Heimat", die düster-grausige Züge der verlassenen Heimat behält. Eine Frau aus dem Kongo sagte mir, daß sie mit ihren Landsleuten praktisch nicht kommuniziert. "Sie sitzen im Wohnheim, schauen aus dem Fenster und erzählen Klatsch. Als sie erfahren haben, daß ich im Radio arbeite, kam gleich: was verdienst Du? O-o, warum arbeitest du umsonst? Und einer kam da zufällig vorbei. Das ist doch kein echtes Radio. Es ist so schmutzig dort, pfui... Es ist doch besser, zu Hause zu hocken und allen nachzuspionieren: Sie kaufte heute Bier, es ist nicht gut, allein zu trinken. Ich habe keine Probleme, ich bin keine Muslimin, aus Trotz kaufe ich auch noch Wein und trinke ihn allein aus. Ich werde lieber mit Deutschen kommunizieren, oder mit dir, zum Beispiel.»

Das Sympathische am Wahnsinn ist seine Selbstlosigkeit. Man kann nicht verrückt werden mit dem einen oder anderen Ziel. Der selbstlose Abbruch der Beziehungen mit Landsleuten katapultiert den Ausländer aus der nationaler Gemeinde in einen Raum, der der "dritte" genannt wird und weder mit dem seinerzeit so mühsam verlassenen "eigenen" Land, noch mit der verdächtig gastfreundlichen Diaspora gleichzusetzten ist, mit deren lästigen Besserwissern, ungebetenen Ratgebern, fragwürdigen Geschäften und ihrer öffentlichen Meinung. Und Verrückte dürfen bekanntlich alles.

Der Ausländer findet sich unwillkürlich zwischen Grenzen wieder, und seine Möglichkeiten, diese Existenz am Rande des Abgrunds zu genießen, ist nicht geringer als die, über die zum Beispiel Dadaisten, Surrealisten oder alle andere X-isten des großen europäischen Pantheons verfügten. Im Gegenteil, die Entfernung als Anlaufstrecke verstärkt lediglich den Effekt.

Bei Salman Rushdi ist ein Mensch aus Pakistan, Vater einer vielköpfigen Familie, Macho und Haustyrann, so begeistert von der Geburt seines Sohns, daß er persönlich in eine Londoner Apotheke geht, um Schnuller zu kaufen. Dort bekommt er von der Apothekerin eine Ohrfeige als Antwort auf die Frage: «Have you got any nipples?..» Unter solchen Schlägen fallen jahrhundertelange Traditionen. Oder sogar: sie fallen nicht, sondern treten beiseite, und hinterlassen Sie allein auf dem Gipfel, von dem man gleich weit in beide Richtungen sehen kann. Und gerade von dort, tritt der im Gesprächn stotternde und in seinen Handlungen undurchschaubare Ausländer in die Gesellschaft – ein permanenter Aktionskünstler, ein unschuldiger Provokateur, Held und Opfer des eigenen Schauspiels. Seine Züge scheinen (vielleicht nur scheinen) bekannt zu sein. Das ist er, der europäische Künstler.

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Kirill Cherbitski, Radio ECH, 2000.
 
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