Olga Sidor.

Wie ich zum ersten mal verstanden habe, daß wir Zuhörer haben.

 

Ich habe mich dem Radio Ech im zweiten Jahr seines Bestehens angeschlossen. Vorher kannte ich zwar schon die meisten Redaktionsmitglieder, die mich gelegentlich versucht hatten, für das Radio zu gewinnen, hauptsächlich wegen der guten Aussprache in Deutsch, aber ich konnte den tieferen Sinn dieses Unternehmens nicht gleich erkennen und weigerte mich, da mitzumachen.

Debütiert habe ich dann gleich mit einer ganzen eigenen Sendung – keine halben Sachen, nicht so wie es üblich ist: zuerst Nachrichten, dann Reportagen, nein, das war gleich eine halbstündige Sendung auf Deutsch. Das Thema habe ich mir auch selbst ausgesucht, ganz ultimativ: entweder dieses Thema oder gar nichts. Die Sendung sollte am Heiligabend ausgestrahlt werden, um 19 Uhr und war entsprechend meinem Wunsch Winni the Pu gewidmet.

Das hat Spaß gemacht, und so bin ich in dieses Redaktionsgetümmel reingerutscht. Warum ich da geblieben bin, ist mir bis jetzt ein Rätsel, denn der tiefere Sinn dieses Unternehmens ist mir auch jetzt noch verborgen, aber Spaß macht es auf jeden Fall. Vor allem vielleicht gerade deswegen, weil wir, wie ich damals, nach meiner ersten Heiligabenderfahrung dachte, keine Zuhörer haben. Das hat mir gefallen. Da ist sie – dachte ich -- die reine Kunst, die Kunst für die Kunst. Wir machen etwas und beurteilen es unter uns, und bei der Produktion denken wir nur an die Meinung von drei-vier Kollegen, und es gibt keine Zwänge, es gibt keine Verbote, außer die des Stils und des Geschmacks, und unsere Geschmäcker liegen gottseidank weitgehend nahe beieinander.

In solcher festen Überzeugung beteiligte ich mich paar Monate später an der russischen Live-Sendung zum Internationalen Frauentag, der, wie Ihr Euch vielleicht erinnern könnt, am 8.März ist und in den postsowjetischen Ländern, seines revolutionären Sinnes entledigt, viel mehr gefeiert wird als im Westen.

Die Sendung war lustig und im guten Sinne des Wortes chaotisch. Jemand hat eine Pugatschova-Platte aufgelegt – für die, die nicht wissen: das ist eine schreckliche russische Popsängerin – Sie sang etwas quasi-witziges über “einen echten Oberst”. Das Lied ging mir ziemlich bald auf die Nerven, und vor dem eingeschalteten Mikro forderte ich Viktoria übermütig auf, diesen Mist auszublenden. “Lege unser Lieblingslied auf” – bat ich. Na ja, zugegeben, Lieblingslied war vielleicht übertrieben, aber wir haben schon bei der Vorbereitung der Sendung reichlich darüber gelacht, und das war auf jeden Fall etwas ganz anderes als Pugatschova. “Hilf mir abzutreiben” -- sang da eine geschlechtsneutrale Stimme zu einer wehmütiger Walzermusik.

Ich walzte durch unser enges Studio und war ganz vergnügt. Auf einmal klingelte, oder genauer gesagt, blinkte unser Studiotelefon. Ich ging dran und ... es ist mir buchstäblich schlecht geworden: am Telefon war ein kleines Mädchen, vielleicht 6 Jahre alt. Sie sprach ganz unsicher, und im Hintergrund konnte man noch jemanden Erwachsenen vorsagen hören können. “Können sie bitte meiner Oma zum Internationalen Frauentag gratulieren und ihr ein schönes russisches Lied spielen” – sagte sie. Ich war so geschockt, daß ich den Hörer sofort weglegte und panisch zu Viktoria schaute. Viktoria hat erstaunlich schnell, vernünftig und professionell reagiert: Abtreibungshilfeschrei weggemacht, Echter-Oberst-Schlager zurück, Kind nach dem Musikgeschmack der Oma befragt und diesen dann weitgehend befriedigt...

Und ich habe an diesem Tag gelernt: wir haben Zuhörer und unter ihnen gibt es sogar Kinder.

 

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Olga Sidor, Radio ECH, 2000.