Olga Sidor.

Wie ich ein Interview machen wollte.

 

Kleine Mädchen verlieben sich in Popstars. Mädchen im fortgeschrittenen Alter, solche wie ich, verlieben sich gelegentlich in Dichter. So hat es mich auch mal vor kurzem getroffen, bei einer Lesung. Den Namen dieses Dichters werde ich hier lieber nicht nennen. Ich kann nur offenbaren, daß er Mitte dreißig ist, gut aussieht, noch besser spricht, heute nicht hier anwesend ist und auf der Dichterskala ganz wo anders steht, als die hier anwesenden großen deutschsprachigen Dichter. Ich werde ihn weiter einfach Dichter nennen. Also, ich wollte ihn unbedingt persönlich kennenlernen. Aber wie kommt man an so jemanden heran?

Der Tag der nächsten großen Lesung des Dichters in Freiburg nahte, und ich wußte nicht, was ich unternehmen soll. Da fiel mir plötzlich ein: Ein Interview! Du arbeitest doch beim Radio, und ein Interview ist die beste Methode, Dichter kennenzulernen: sie sind doch in der Regel sehr eitle Wesen, und egal wie lokal ein Sender ist, wird ein Dichter doch so eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung nicht ausschlagen. Leider wurde er aber schon mal für unser Radio interviewt, und zwar sehr sehr ausführlich. Wie kann man die Notwendigkeit eines neuen Interviews begründen? Da hat mir jemand gesagt, daß mein Dichter Brodski, den großen russischen Dichter, Nobelpreisträger persönlich kannte! Eine bessere Anknüpfung konnte man sich kaum vorstellen. Logisch: ich muß ihn für unsere russische Sendung zu Brodski befragen! Um so mehr, daß er, mein Dichter, vor kurzem in einer seiner veröffentlichten Poetik-Vorlesung über die Zunftkollegen seiner Generation klagte: “Von dem, was die moderne Poesie in den letzten Jahrzehnten ausmachte, und wenn es nur die Nobelpreise sind – Milosz, Brodski, Walcott, Heaney etc. – auch da werden Sie nur in Ausnahmefällen jemanden in Deutschland finden, mit dem Sie darüber ein paar vernünftige Worte wechseln könnten.” So beschloß ich, dieser Ausnahmefall zu werden und diesmal gegen meine Gewohnheit alles ganz gründlich zu machen. Ich holte mir aus der Bibliothek alles von Brodski und alles über Brodski, ich las Brodski auf Russisch und in deutschen Übersetzungen, ich las das, was Brodski auf Englisch geschrieben hat und russische und deutsche Übersetzungen dessen. Ich las Interviews mit Brodski und Interviews mit anderen Menschen über Brodski. Daß ich das ganze Oeuvre meines Dichters durchstudiert habe, ist wohl selbstverständlich. Ich stellte einen Fragekatalog mit ca. dreißig Fragen zusammen, wo ich alle möglichen Gesprächswendungen zu berücksichtigen versuchte. Ich lernte meine Fragen auswendig und schrieb sie sauber in ein extra dafür gekauftes hübsches Heft. Ich lernte endlich nach zwei Jahren Radioarbeit den Umgang mit dem Aufnahmegerät. Ich kaufte auf Vorrat Kassetten und Batterien. Ich ließ mich von unserer Profijournalistin Viktoria in die Feinheiten der Interview-Führung einweihen. Ich erfuhr dabei, daß man zum Beispiel nie zwei Fragen in einer stellen darf und daß man nicht verständnisvoll Uhu sagt, während der Interviewte gerade ins Mikrophon spricht und übte in privaten Gesprächen, dieses Uhu nicht mehr zu sagen.

Alle meine Freundinnen habe ich überredet, mit in die Lesung zu gehen, und nach dem wie erwartet glänzenden Auftritt des Dichters haben sie mir bestätigt, daß mein Dichter- und Männergeschmack in Ordnung ist. In ihren Augen habe ich gelesen, daß sie mich alle um meine Interwiererin Rolle beneiden. Entschlossen ging ich auf den Dichter zu, stellte mich vor, und erklärte mein Anliegen. Er schien sehr erfreut zu sein. “Brodski? O! Endlich mal ein gescheites Thema für ein Interview! Gerne.” Aber an dem Abend war es ziemlich unpassend für ihn: Dichter können auch ziemlich begehrt sein und ein paar Persönlichkeiten aus der Freiburger Kulturszene wollten unbedingt mit dem Dichter nach der Lesung ein Glas Wein trinken. Kurz und gut, er schlug mir vor, ihn am nächsten Morgen im Hotel zu besuchen und bei einem gemütlichen Frühstück Brodski in aller Ruhe zu besprechen. Als meine Freundinnen das hörten, sind sie alle vor Neid fast erstickt. Ich weiß nicht, welche Szenen ihnen da vorschwebten, aber mir persönlich schwebte nichts gutes vor. Ich kenne mich schon seit über dreißig Jahren. Ich ahnte, womit das enden würde. So was es dann auch: als ich am nächsten Morgen um halb neun ein Auge aufmachte, um den Wecker abzuwürgen, prüfte ich meine Gefühle: es interessierten mich zu dieser frühen Morgenstunde weder die Dichtung und Dichter insgesamt, noch der konkrete Dichter samt seinem Hotelfrühstück. Ich schlief weiter, und als ich dann zu der für mich üblichen Zeit aufwachte, war es schon zu spät, dem Dichter telefonisch abzusagen. Er hat nämlich unsere Stadt schon verlassen.

Aber die Geschichte hatte eine Fortsetzung: zwei Monate später fand in Zürich eine dreitägige Tagung ausschließlich meinem Dichter gewidmet statt. Ich ignorierte die Tatsache, daß ich gerade kein Geld hatte und kein Visum für die Schweiz und reiste illegal und mit geborgtem Geld dem Dichter nach. Dort, in diesem kleinen akademischen Rahmen war er ein echter Star. Erst am zweiten Tag gelang es mir in der Pause zwischen einer Lesung von ihm und einer Vorlesung über ihn seinen Blick abzufangen und ihn an das verschlafene Brodski-Interview zu erinnern. Er vergab mir das Verschlafen, elegant und großzügig wie er ist, und schlug vor, es gleich nachzuholen. Ich wollte für mein Interview unbedingt einen ruhigen einsamen Raum haben, er wußte einen im Keller des Gebäudes. Zuerst gingen wir lange durch die romantischen Labyrinthe, kamen in einer schalldichte Kammer, er brachte Stühle für uns beide, fand eine Steckdose und Verlängerunskabel für mein Gerät, dann half er mir das Gerät zusammenzubauen, er war dabei wahnsinnig charmant und witzig und da

– schon die Luft für die erste Frage geholt – stellte ich auf einmal fest, daß die auf Vorrat gekauften Kassetten alle in der Wohnung meiner Zürcher Gastgeber geblieben sind. “Nun gut,” – sagte er genau so rasch und entschlossen, wie er vorher in das Interview einwilligte, – “dann halt nicht, bis zum nächsten mal”. Und verschwand. Mein Aufnahmegerät einpacken und aus dem Keller herausfinden mußte ich schon allein.

Ich weiß nicht ob ich noch irgendwann den dritten Versuch wage, aber eines ist sicher: die seltsame Journalistin vom Russischen Radio aus Freiburg wird dieser große deutschsprachige Dichter nicht so bald vergessen. Und das war doch mein Ziel, oder?

 

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Olga Sidor, Radio ECH, 2000.