Olga Sidor.

Wieviel Akzent erträgt das Radio?

 

Das ist unser ewige Streit. Es gibt dabei zwei extreme Positionen: Ich persönlich vertrete den radikal puristischen Standpunkt. Ich hasse Akzent, auch meinen eigenen und versuche gegen ihn mit allen Mitteln zu kämpfen. Andere Mitglieder unserer Redaktion bilden sich ein, ihr Akzent klingt für die Deutschen “lustig”. Die deutschen Kollegen bleiben höflich und überlassen diese Diskussion uns.

Ich weiß nicht, wie nett die bei manchen von uns schon fast konzeptuelle falsche Betonung sein kann. All diese GESELLSCHÁFTEN, ARBÉITEN, TAPFERKÉITEN, sogar das einfache EINFÁCH ...

Besonders betrübt mich immer das Aussprechen der sogenannten internationalen Wörter. Wem kam den überhaupt die Idee, sie als international zu bezeichnen!? Ich kann mir vorstellen, daß es für die Deutschen ziemlich anstrengend ist, bei PALICIK gleich zu kapieren, daß es um POLITIK geht, bei GARISANTALE um HORIZONTALE, bei AKTOBER um OKTOBER, bei MIKRAFON um MIKROFON,

bei APPASITION um OPPOSITION bei PRACEST um PROTEST und so weiter. Nicht mal KAMMUNISMUS und REVALUCION blieben davon verschont, und nach meiner Beobachtung gibt es in dem für uns relevanten Wortschatz ein einziges wirklich internationales Wort, und zwar ANARCHISMUS. Und mit dem Fortschreiten der GLABALISIERUNG und KAMPJUCERISIERUNG wird die Sache noch schlimmer, denn immer mehr Wörter werden für sogenannte INTERNACIANALE gehalten.

Besonders nett muß für Euch arme die Kombination des russischen Akzentes mit den Elementen des Badischen sein. Jeden DONNERSCHTAG und SAMSCHTAG müssen sich die Freiburger diesen Schreck in Form unseres Jingles anhören. NÄCHSCHTE Woche wieder von vorne ...

Hinzu kommen natürlich auch unsere große Freunde Artikel, Endungen und sonstige Feinheiten.

Aber selbst die treusten Zuhörer, die sich an sowas seit vier Jahren gewöhnt haben und alle Betonungen, Artikel und Laute schnell konvertieren können, haben manchmal keine Chance, mit unseren Sendungen mitzukommen. Denn man muß wahrhaft hellsehen können, um zu verstehen, was für eine Einrichtung ein UNTERNEHMUNGSGESCHÄFTNIS ist, in das der russische Medienmagnat Gusinski eingesperrt wurde – so hat Viktoria neulich das UNTERSUCHUNGSGEFÄNGNIS beim Vorlesen der Nachrichten getauft.

Mein Purismus gilt natürlich auch der russischen Sprache, aber da habe ich Mitkämpfer und dieses schreckliche Mischmasch, dessen sich einige unsere ehemalige Landsleute und Eure frischgebackene Mitbürger zu bedienen pflegen, kommt bei uns so gut wie nie vor. Da übertreiben wird sogar ein bißchen und übersetzen manchmal auch das, was man auch unübersetzt lassen könnte, zum Beispiel solche deutsche Eigennamen wie WEST-OST-GESELLSCHAFT, AUSLÄNDERBEIRAT oder MÜLLSORTIERUNGSKALENDER wortwörtlich ins Russische.

Wieviel Akzent erträgt das Radio?

Das ist bei uns die ewige Frage. Sie wird wohl erst mit dem Verschwinden des Problems selbst zu lösen sein – mit dem Verschwinden des Akzents bei unserer Radiomachern. Und damit ist wohl in  absehbarer Zeit gottseidank nicht zu rechnen.

 

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Olga Sidor, Radio ECH, 2000.